Ars Dogmatica

Pierre Legendre

Die Festung des Subjekts

Ich beziehe mich hier nicht auf das Wort Individuum, dessen Tragweite und Bedeutung man aus der Etymologie erfährt : das Untrennbare, das Unteilbare, anders gesagt die heute vergötterte Gestalt des Monoblock-Individuums. Hier handelt es sich um das Subjekt, das zur Sprache befähigte Tier, das sich aufgrund seiner Sprache getrennt von den anderen Tieren versteht und fühlt, auf eine Weise, die nichts Animalisches hat. Dieses Selbstverständnis nennen wir das reflexive Bewusstsein.

Das Bewusstsein des eigenen Ich wird zum Gespräch des Menschen mit sich selbst und mit der Welt. Dieses unterscheidende Merkmal der Menschheit  deutet auf die Einsamkeit des Subjekts hin, das eingeschifft ist in « das erschöpfende Bewusstsein, leben zu müssen » inmitten des Theatron der Diskurse, aus dem die instituierende Funktion schöpft und sich gründet. Das hier angeführte Zitat des russischen Schriftstellers Turgeniew wäre eine sinnvolle Einleitung in die Psychoanalyse, eine Disziplin, die zugleich akzeptiert und verteufelt wird, so wie dieses Zitat auch für eine erste Annäherung an das Fundament der dogmatischen Anthropologie geeignet ist : Für die fundamentalere Untersuchung, zur Instituierung der Vernunft — « instituer la raison » — ist die Berücksichtigung des subjektiven Lebenswillens — « une raison de vivre » — unvermeidlich und von der Zusammengehörigkeit von Subjekt und Gesellschaft untrennbar.

Niemand wählt die Zeit noch den Ort noch die Urheber seiner Geburt. Und wer immer sich mit dem Familienroman, mit der Erzählung des eigenen Lebens beschäftigt hat, hat von der verbotenen Frucht gekostet. Aber was bedeutet ein Leben inmitten dieser Überfülle des Wissens mit Anspruch auf Universalität, die in den Gesellschaften des Abendlands herrscht, Gesellschaften, die von verbotener Frucht nichts wissen wollen ? Wer wird die menschliche Klage zivilisieren, das urprüngliche Warum ? auf angemessene Weise inszenieren, uns von der Angst befreien, durchsichtig zu sein ? Wer wohl ? Ich meine damit : Welche Diskurse von institutioneller Bedeutung, d. h. die fähig wären, die großen positivistischen Fälschungen zurückzudrängen, welche die Menschheit erneut zu entflammen drohen ?

Wir sind getrennt von dem was wir eigentlich sind. Es sei denn, wir haben Zugang zu dem, was uns leben macht, zu dieser obskuren Wahrheit. Doch zu welchem Preis ? Alles in der menschlichen Aufgabe zu existieren organisiert sich logisch jenseits des persönlichen Selbstgefühls, d. h. auf der sozialen Ebene, weil eine befremdende, unbestimmbare Abwesenheit zu uns selbst uns innewohnt. Bei den Griechen finden wir dafür das antike Wort  Nostalgie.

Gäbe es ein Mittel, dies die Fachleute des Institutionellem hören zu lassen, die heutzutage — den neuen Regierungsbefähigungen gemäß — beflissentlich den Lebenswillen im Namen der Wissenschaften formulieren und verkünden ? Ein solches Mittel sehe ich nirgends außerhalb der dichterischen Künste in all ihren weltweiten Ausdrucksformen.

Der Leser dieser Webseite erlaube mir eine Erinnerung, die in diesem Zusammenhang als Apolog gelten kann. Auf Besuch bei Borges kamen wir beide auf meine Schriften zu sprechen, ich wurde gebeten, ihm einen Text vorzulesen, der den Titel trägt « Haute Mère » (« Hohe Mutter », auf Französisch phonetisch identisch mit « Hohes Meer ») —. Darauf führte mich der blinde Dichter in das Sterbezimmer seiner Mutter… Vor dem majestätisch aufgerichteten Sterbebett fand ein ungewöhnliches Gespräch statt.

Auch heute kommt mir diese mythologische Szene immer wieder aufs Neue ins Gedächtnis zurück. Es sei denjenigen gewidmet, die es noch wagen sich die Frage zu stellen, in wessen Namen ein menschliches Lebewesen am Werk ist, was das Anfängliche allen Lebens ist. Auf diese offensichtlich genealogische Wahrheit kann niemand verzichten, es sei denn er wolle dem Leben selbst ein Ende machen.

Als Rechtshistoriker hatte ich die leidenschaftliche Beziehung zu einer Vergangenheit erfahren, die mir zuvor völlig fremd war. Sich mit der Psychoanalyse auseinander zu setzen, ist ein anderes Mittel, das Gedächtnis wachzurütteln. Der anfangs naive Versuch, in die Kulissen einer subjektiven Vergangenheit einzudringen, offenbarte sich sozusagen als Feuertaufe, denn mit der Zeit, wenn man dem Wahrheitsknoten näher kam, erblickte man das Schlachtfeld oder gar die Hölle. Dort wird man sich wehren, bevor man sich ergibt…

Was die berauschenden Drogen der Abstraktion betrifft, eine Flucht nach vorn, die geradewegs zur Wissenschaftsgläubigkeit… oder Schlimmerem führen kann, dies entsprach nicht meiner Neigung. Meine Arbeit als Analytiker war somit von Kasuistik geprägt, mit der Aufgabe, die klinische Praxis durch eine Hermeneutik zu bereichern, die sich abseits von den mit der Herde laufenden Ideologen entfaltete. Es galt die Dimension der Institutionalität in die klinische Arbeit einzuführen, die Annäherung an den Abgrund des Unbewussten mit dem verrückten Schmelztiegel der Vernunft — le creuset délirant de la Raison — in Einklang zu bringen, so dass die Zusammengehörigkeit von Subjekt und Zivilisation wieder verständlich wird.

Der Psychoanalyse ergeht es wie allen geistigen Erneuerungen, allen großen Gedanken, denen Schopenhauer, wie schon Goethe ein unerbittliches Schicksal vorhersagten : sie müssen den Status einer Episode annehmen.

Da die Dichter es vermögen, der Sprache die Zunge zu lösen, möchte ich hier dank Alechinskys Bild Aufschluss über die Festung des Subjekts geben. Wer sich von der Opazität des Unbewussten eine Ahnung machen will, dem bietet das Bild eine radikale, aber notwendige Verwirrung. Der Maler Alechinsky stellt eine verschlüsselte Szene dar, die das ihm eigene Un-bewusste beschreibt.

Dieses Bild, das die Begierde und die phallische Metapher anhand einer Erzählung aus Tausendundeiner Nacht glorifiziert, spricht sein eigenes Rätsel durch einen zitternden, keuchenden Text aus :

« In der drei-hund-ert-sechs-und-sieb-zigsten Nacht blickte sie vor sich hin und ihreAugen waren so schön wie ihre Augen, sie wartete wer wohl zu ihr käme. Doch die Schlange, in dieser Nacht, … »

Lesen Sie die Folge und meditieren Sie.

« wie Sie sehen die sie nicht sah, sah die nackte Frau nicht versteckt in der glasklaren Wüste, die sie suchte, um wie ein böser Hampelmann im wüsten Himmel zu schlängeln, und die sich ihr dennoch mit irdischer, geologischer Begierde in Windungen näherte zu hoffen »

            Schließen wir den Kreis der Bedeutung mit dieser Bemerkung : durch das vom Künstler angefertigte Gemälde wird der Übergang zum Un-bewussten (l’insu) durch eine materialisierte Verwirklichung gewissermaßen forciert. Das dritte Feld (l’espace tiers) des Gemäldes wird nicht nur zu einer äußeren Szene für seinen Autor, sondern auch zu einer sozialisierten mythologischen Szene, die das anonyme Publikum anspricht und  sich an jeden beliebigen wendet.

Dank dieser Verfremdung in der Fiktion, die dem am Gemälde Vorübergehenden diktiert wird, « erkennt sich » jeder in der Maske des Künstlers, der hier sein Un-bewusstes (son insu) ausgestellt hat. Stehe ich einem Kunstwerk gegenüber, kann ich nicht der Gefahr entgehen, für einen Augenblick  halb ich selbst, halb der andere zu sein.

Die Wahrheit über die Kulissen des Subjekts erkennen, hier liegt die verkannte Dimension der sogenannten kulturellen Beschäftigungen und Museumsbesuche, wo ein gewisses Spiel abläuft, zum Gedenken an den Balanceakt des Künstlers mit seinen Fantasiebildern.

Dessin d’Alechinsky

Texte écrit sur les joues du personnage :
La trois cent soixante septième nuit, elle regarda devant elle et ses yeux étaient aussi beaux que ses yeux, elle attendait qui allait venir la voir. Quant au serpent, cette nuit-là, vous le voyez qui ne la voyait pas, qui ne voyait pas la femme nue cachée dans le désert limpide, qui la cherchait à serpenter comme un pantin monstre dans le ciel désert, et qui pourtant s’approchait d’elle par le désir terrestre, géologique, à spires d’espérer. 

Übersetzt von Veronika Guest

Emblème

Solennel, l’oiseau magique préside à nos écrits.
Le paon étale ses plumes qui font miroir à son ombre.
Mais c’est de l’homme qu’il s’agit :
il porte son image, et il ne le sait pas.

« Sous le mot Analecta,
j’offre des miettes qu’il m’est fort utile
de rassembler afin de préciser
sur quelques points ma réflexion. »
Pierre Legendre

« Chacun des textes du présent tableau et ses illustrations
a été édité dans le livre, Le visage de la main »

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